Der Fah­rer eines Lini­en­bus­ses darf den Bus nach dem Zustieg eines laut Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis geh­be­hin­der­ten Fahr­gas­tes, des­sen Ein­schrän­kung äußer­lich nicht erkenn­bar ist, anfah­ren, bevor der Fahr­gast einen Sitz­platz ein­ge­nom­men hat. Allein die Vor­la­ge eines Schwer­be­hin­der­ten­aus­wei­ses mit dem Merk­zei­chen G ver­pflich­tet den Fah­rer nicht zur beson­de­ren Rück­sicht­nah­me. Viel­mehr kann von dem geh­be­hin­der­ten Fahr­gast erwar­tet wer­den, dass er den Bus­fah­rer auf sei­ne Geh­be­hin­de­rung anspricht und ggfls. dar­um bit­tet, das Anfah­ren bis zur Ein­nah­me eines Sitz­plat­zes zurück­zu­stel­len. Das hat der 11. Zivil­se­nat des Ober­lan­des­ge­richts Hamm mit Beschlüs­sen vom 13.12.2017 und 28.02.2018 ent­schie­den (Az. 11 U 57/17 OLG Hamm) und damit das erst­in­stanz­li­che Urteil des Land­ge­richts Bochum vom 21.03.2017 (Az. 8 O 23/17 LG Bochum) bestätigt.

Die sei­ner­zeit 60 Jah­re alte Klä­ge­rin aus Her­ne bestieg im April 2016 den vom zweit­be­klag­ten Bus­fah­rer gesteu­er­ten Lini­en­bus des erst­be­klag­ten kom­mu­na­len Nah­ver­kehrs­be­triebs aus dem mitt­le­ren Ruhr­ge­biet. Die Klä­ge­rin ist auf­grund eines Hüft­scha­dens zu 100 % schwer­be­hin­dert. Ihr Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis ist mit dem Merk­zei­chen G ver­se­hen. Eine Geh­hil­fe benutzt die Klä­ge­rin nicht. Beim Ein­stieg zeig­te die Klä­ge­rin ihren Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis vor, ohne den Bus­fah­rer um eine wei­te­re Rück­sicht­nah­me zu bit­ten. Sie setz­te sich sodann nicht auf den hin­ter dem Fah­rer befind­li­chen, für Schwer­be­hin­der­te aus­ge­wie­se­nen Sitz­platz oder einen ande­ren, nahe­ge­le­ge­nen frei­en Sitz­platz, son­dern ging durch den Bus, um sich auf einen Sitz­platz in der Nähe des ers­ten Aus­stiegs zu set­zen. Bevor die Klä­ge­rin sich set­zen konn­te, fuhr der Bus an. Hier­bei stürz­te die Klä­ge­rin und zog sich einen Ober­schen­kel­bruch zu.

Auf­grund der erlit­te­nen Ver­let­zun­gen hat die Klä­ge­rin von den Beklag­ten Scha­dens­er­satz ver­langt, u.a. ein Schmer­zens­geld in Höhe von 11.500 Euro und den Aus­gleich eines Haus­halts­füh­rungs­scha­dens von ca. 4.000 Euro. Sie hat gemeint, der Bus­fah­rer habe allein auf­grund des vor­ge­zeig­ten Schwer­be­hin­der­ten­aus­wei­ses mit dem Anfah­ren abwar­ten müs­sen, bis sie einen Sitz­platz ein­ge­nom­men habe.

Das Kla­ge­be­geh­ren ist erfolg­los geblie­ben. Der 11. Zivil­se­nat des Ober­lan­des­ge­richts Hamm hat die kla­ge­ab­wei­sen­de erst­in­stanz­li­che Ent­schei­dung des Land­ge­richts Bochum bestätigt.

Ein Fahr­gast habe sich, so der Senat, unmit­tel­bar nach dem Zustei­gen in einer Stra­ßen­bahn oder einen Lini­en­bus siche­ren Stand oder einen Sitz­platz sowie siche­ren Halt zu ver­schaf­fen. Wer­de dies gera­de in dem Zeit­raum des beson­ders gefah­ren­träch­ti­gen Anfah­rens ver­säumt, tref­fe den Fahr­gast ein erheb­li­ches Mit­ver­schul­den. Hin­ter die­sem tre­te die Betriebs­ge­fahr des Ver­kehrs­mit­tels regel­mä­ßig völ­lig zurück. Im vor­lie­gen­den Fall habe die Klä­ge­rin gegen ihre Oblie­gen­heit zur Eigen­si­che­rung ver­sto­ßen. Sie habe kei­nen im Ein­stiegs­be­reich vor­han­de­nen frei­en Sitz­platz ein­ge­nom­men und sich beim Anfah­ren nicht hin­rei­chend fest­ge­hal­ten. Zudem habe sie den Bus­fah­rer auch nicht dar­um gebe­ten, mit dem Anfah­ren abzu­war­ten, bevor sie Platz genom­men habe.

Ein Ver­schul­den des Bus­fah­rers sei dem­ge­gen­über nicht fest­zu­stel­len. Von einem Bus­fah­rer, der auf ande­re Ver­kehrs­teil­neh­mer und äuße­re Fahrt­si­gna­le zu ach­ten habe, sei regel­mä­ßig nicht zu ver­lan­gen, dass er zuge­stie­ge­ne Fahr­gäs­te beson­ders im Blick behal­te. Eine sol­che Ver­pflich­tung sei nur aus­nahms­wei­se gege­ben, wenn für den Bus­fah­rer eine schwer­wie­gen­de Behin­de­rung des Fahr­gas­tes erkenn­bar sei, nach der der Fahr­gast ohne beson­de­re Rück­sicht­nah­me gefähr­det sei.

Ein sol­cher Aus­nah­me­fall habe für den beklag­ten Bus­fah­rer nicht vor­ge­le­gen. Die Klä­ge­rin habe den Bus ohne erkenn­ba­re Pro­ble­me und ohne frem­de Hil­fe bestie­gen und kei­nen der nahe­ge­le­ge­nen, frei­en Sitz­plät­ze ein­ge­nom­men. Allein aus der Vor­la­ge des Schwer­be­hin­der­ten­aus­wei­ses — wobei offen­blei­ben kön­ne, ob die Klä­ge­rin tat­säch­lich auch die Rück­sei­te mit dem Merk­zei­chen G vor­ge­zeigt habe — habe der Bus­fah­rer nicht schlie­ßen müs­sen, dass die Klä­ge­rin ohne eine beson­de­re Rück­sicht­nah­me gefähr­det sei.

Ein Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis, auch ein sol­cher wie der der Klä­ge­rin, der zur unent­gelt­li­chen Nut­zung des öffent­li­chen Per­so­nen­nah­ver­kehrs berech­ti­ge, besa­ge nicht, dass auf den Inha­ber beim Zustei­gen in öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel grund­sätz­lich beson­ders Rück­sicht zu neh­men sei. So kön­ne z.B. von einem gehör­lo­sen Men­schen regel­mä­ßig ange­nom­men wer­den, dass er kei­ner beson­de­ren Hil­fe bedür­fe, um in einem Lini­en­bus einen Sitz­platz ein­zu­neh­men. Ein Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis mit dem Merk­zei­chen G erhal­te zudem auch ein pri­mär in sei­ner Ori­en­tie­rungs­fä­hig­keit gestör­ter Mensch, auf den bei der Sitz­platz­ein­nah­me in einem Lini­en­bus eben­falls nicht beson­ders Rück­sicht genom­men wer­den müs­se. Des­we­gen sei von einer behin­der­ten Per­son, die — wie die Klä­ge­rin — äußer­lich kei­ne Anzei­chen für eine Geh­be­ein­träch­ti­gung erken­nen las­se, zu erwar­ten, dass sie den Bus­fah­rer auf ihre Situa­ti­on auf­merk­sam mache und ggfls. bit­te, das Anfah­ren bis zur Ein­nah­me eines Sitz­plat­zes zurückzustellen. 

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