BGH, Beschluss vom 02.11.2021, AZ VIII ZR 111/20

Aus­ga­be: 11–2021

Der Bun­des­ge­richts­hof hat sich in einer nun­mehr ver­öf­fent­lich­ten Ent­schei­dung damit beschäf­tigt, ob der Käu­fer eines auf­grund einer unzu­läs­si­gen Abschalt­ein­rich­tung man­gel­haf­ten Neu­fahr­zeugs (sie­he hier­zu bereits Senats­ur­tei­le vom 21. Juli 2021 – VIII ZR 254/20 et al. – Pres­se­mit­tei­lung Nr. 140/2021) vom Kauf­ver­trag zurück­tre­ten kann, ohne dem Ver­käu­fer zuvor Gele­gen­heit zur Man­gel­be­sei­ti­gung (hier: durch ein Soft­ware-Update) zu geben. 

Sach­ver­halt:

Der Klä­ger erwarb im Jahr 2015 bei der beklag­ten Fahr­zeug­händ­le­rin ein mit einem von der Volks­wa­gen AG her­ge­stell­ten Die­sel­mo­tor EA 189 aus­ge­stat­te­tes Neu­fahr­zeug Ško­da Yeti, des­sen Motor­steue­rungs­soft­ware den Prüf­stand­lauf erkann­te und in die­sem Fall den Aus­stoß von Stick­oxi­den ver­rin­ger­te. Nach­dem die Ver­wen­dung ent­spre­chen­der Vor­rich­tun­gen bei Die­sel­mo­to­ren des Typs EA 189 im Ver­lauf des soge­nann­ten Die­sel­skan­dals öffent­lich bekannt gewor­den war, erklär­te der Klä­ger im Herbst 2017 den Rück­tritt vom Ver­trag. Die Beklag­te ver­wei­ger­te die Rück­nah­me des Fahr­zeugs und ver­wies den Klä­ger auf das von der Volks­wa­gen AG ent­wi­ckel­te und von der zustän­di­gen Behör­de frei­ge­ge­be­ne Soft­ware-Update, das hin­sicht­lich des Stick­oxid­aus­sto­ßes einen vor­schrifts­mä­ßi­gen Zustand her­stel­len soll­te. Der Klä­ger ließ das Soft­ware-Update nicht auf­spie­len, weil er nega­ti­ve Fol­gen für das Fahr­zeug befürchtete. 

Bis­he­ri­ger Prozessverlauf: 

Die Vor­in­stan­zen haben der auf Rück­ab­wick­lung des Kauf­ver­trags gerich­te­ten Kla­ge weit­ge­hend statt­ge­ge­ben. Nach Ansicht des Beru­fungs­ge­richts schei­te­re der vom Klä­ger erklär­te Rück­tritt auch nicht an der unter­blie­be­nen Frist­set­zung zur Nach­er­fül­lung, da die­se vor­lie­gend nach § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB und § 440 BGB ent­behr­lich gewe­sen sei. Dem Klä­ger sei eine Nach­bes­se­rung unzu­mut­bar, weil er nicht gehal­ten sei, mit der Durch­füh­rung des Soft­ware-Updates die Besei­ti­gung des Man­gels letzt­lich der Her­stel­le­rin zu über­las­sen, auf deren arg­lis­ti­ges Ver­hal­ten das Bestehen des Man­gels zurück­zu­füh­ren sei. Außer­dem kön­ne nicht davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass das Update kei­ne nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen auf das Fahr­zeug oder den Fahr­be­trieb ent­fal­te, denn nach der all­ge­mei­nen Lebens­er­fah­rung hät­te die Her­stel­le­rin nicht ohne Not zu “ille­ga­len Mit­teln” gegrif­fen, wenn der mit der Prüf­stand­er­ken­nung bezweck­te Effekt so ein­fach und ohne ander­wei­ti­ge Nach­tei­le zu errei­chen gewe­sen wäre. 

Den Wert des bei Rück­ab­wick­lung des Kauf­ver­trags vom Klä­ger für die Nut­zung des Fahr­zeugs gemäß § 346 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB zu leis­ten­den Ersat­zes haben bei­de Instan­zen im Wege der Schät­zung aus­ge­hend von einer zu erwar­ten­den Gesamt­fahr­leis­tung von 250.000 Kilo­me­tern bestimmt. Mit der vom Beru­fungs­ge­richt zuge­las­se­nen Revi­si­on will der Klä­ger zu sei­nen Guns­ten dem­ge­gen­über den Ansatz eine Gesamt­fahr­leis­tung von 400.000 Kilo­me­tern errei­chen, wäh­rend die Beklag­te mit ihrer eben­falls zuge­las­se­nen Revi­si­on die Abwei­sung der Kla­ge ins­ge­samt begehrt. 

Die Ent­schei­dung des Bundesgerichtshofs: 

Der unter ande­rem für das Kauf­recht zustän­di­ge VIII. Zivil­se­nat des Bun­des­ge­richts­hofs hat ent­schie­den, dass eine dem Ver­käu­fer vor Aus­übung eines man­gel­be­ding­ten Rück­tritts­rechts vom Käu­fer ein­zu­räu­men­de Frist zur Nach­er­fül­lung nicht allein des­halb ent­behr­lich ist, weil das betref­fen­de Fahr­zeug vom Her­stel­ler mit einer unzu­läs­si­gen Abschalt­ein­rich­tung in Ver­kehr gebracht wor­den ist oder der (blo­ße) Ver­dacht besteht, dass ein zur Man­gel­be­sei­ti­gung ange­bo­te­nes Soft­ware-Update zu ande­ren Nach­tei­len am Fahr­zeug füh­ren könn­te. In einer sol­chen Fall­ge­stal­tung bedarf es viel­mehr zunächst wei­ter­ge­hen­der Prü­fung und (sach­ver­stän­di­ger) Fest­stel­lun­gen durch das Tatgericht. 

Ein Rück­tritt nach § 437 Nr. 2, § 323 Abs. 1 BGB setzt neben dem Vor­lie­gen eines Sach­man­gels im Sin­ne des § 434 BGB grund­sätz­lich wei­ter vor­aus, dass der Käu­fer dem Ver­käu­fer erfolg­los eine ange­mes­se­ne Frist zur Nach­er­fül­lung (Nach­bes­se­rung oder Nach­lie­fe­rung) gesetzt hat. Die­se Frist­set­zung ist jedoch ent­behr­lich, wenn dem Käu­fer — wofür die­ser aller­dings dar­le­gungs- und beweis­be­las­tet ist — eine Nach­er­fül­lung unzu­mut­bar wäre (§ 440 Satz 1 Alt. 3 BGB) oder beson­de­re Umstän­de unter Abwä­gung der bei­der­sei­ti­gen Inter­es­sen den sofor­ti­gen Rück­tritt recht­fer­ti­gen (§ 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB). Dies bejaht die höchst­rich­ter­li­che Recht­spre­chung unter ande­rem dann, wenn der Ver­käu­fer dem Käu­fer einen ihm bekann­ten Man­gel bei Abschluss des Kauf­ver­trags arg­lis­tig ver­schwie­gen hat, weil hier­durch regel­mä­ßig die auf Sei­ten des Käu­fers zur Nach­er­fül­lung erfor­der­li­che Ver­trau­ens­grund­la­ge entfällt. 

Die­se Recht­spre­chung lässt sich jedoch — was das Beru­fungs­ge­richt vor­lie­gend nicht hin­rei­chend beach­tet hat — nicht ohne wei­te­res auf Fall­ge­stal­tun­gen wie die vor­lie­gen­de über­tra­gen, in denen zwar der Her­stel­ler das Fahr­zeug mit einem ihm bekann­ten und ver­schwie­ge­nen Man­gel — der unzu­läs­si­gen Abschalt­ein­rich­tung — in den Ver­kehr gebracht hat, dem Ver­käu­fer selbst die­ser Man­gel bei Ver­trags­ab­schluss aber nicht bekannt war. Zwar kann die Ver­trau­ens­grund­la­ge zwi­schen einem Käu­fer und einem Ver­käu­fer unter Umstän­den auch dann gestört sein, wenn der Ver­käu­fer sich bei Ver­trags­ab­schluss ord­nungs­ge­mäß ver­hal­ten hat, aber eine Nach­bes­se­rung allein in Form eines von eben die­sem Her­stel­ler ent­wi­ckel­ten Soft­ware-Updates anbie­tet. Ob eine sol­che Stö­rung vor­liegt, hängt jedoch stets von den kon­kre­ten Umstän­den des Ein­zel­falls ab, die der Tat­rich­ter nicht allein sche­ma­tisch, son­dern in sorg­fäl­ti­ger Abwä­gung zu wür­di­gen hat. Dabei ist ins­be­son­de­re zu beach­ten, dass sich der Ver­käu­fer, dem vom Gesetz grund­sätz­lich ein Recht zur zwei­ten Andie­nung ein­ge­räumt wird, nach der Recht­spre­chung des Senats ein arg­lis­ti­ges Vor­ge­hen des Her­stel­lers gera­de nicht zurech­nen las­sen muss. Wei­ter­hin wird in Betracht zu zie­hen sein, ob vor dem Hin­ter­grund der erfor­der­li­chen Prü­fung und Frei­ga­be des Updates durch die zustän­di­ge Behör­de und der Beob­ach­tung der wei­te­ren Ent­wick­lung durch die (Fach-)Öffentlichkeit ein erneu­tes arg­lis­ti­ges Ver­hal­ten des Her­stel­lers nicht frag­lich sein könn­te (vgl. hier­zu bereits BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 7/20, Pres­se­mit­tei­lung Nr. 101/2020). Denn wäre — was die Tat­ge­rich­te im Ein­zel­nen zu prü­fen haben — ein wei­te­res arg­lis­ti­ges Ver­hal­ten des Her­stel­lers aus objek­ti­ver Sicht aus­zu­schlie­ßen, lie­ße sich auch eine auf des­sen frü­he­res arg­lis­ti­ges Vor­ge­hen gestütz­te Unzu­mut­bar­keit der Nach­er­fül­lung nicht begründen. 

Eben­so wenig ist vor­lie­gend ein sofor­ti­ger Rück­tritt bereits des­halb gerecht­fer­tigt, weil — wie das Beru­fungs­ge­richt gemeint hat — nach der all­ge­mei­nen Lebens­er­fah­rung das vom Ver­käu­fer ange­bo­te­ne Soft­ware-Update mit dem Ver­dacht oder gar einer tat­säch­li­chen Ver­mu­tung nega­ti­ver Fol­gen für das Fahr­zeug und des­sen Betrieb (höhe­rer Ver­brauch, kür­ze­re Lebens­dau­er des Fahr­zeugs, erhöh­ter Ver­schleiß, ver­min­der­te Leis­tung, schlech­te­re Emis­sio­nen) behaf­tet wäre. Viel­mehr ist zunächst durch ent­spre­chen­de Fest­stel­lun­gen und vor­lie­gend durch das vom Klä­ger dies­be­züg­lich ange­bo­te­ne Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten zu klä­ren, ob und in wel­chem Umfang das vom Ver­käu­fer ange­bo­te­ne Soft­ware-Update tat­säch­lich zu den vom Käu­fer behaup­te­ten Fol­ge­schä­den führt. 

Nach alle­dem hat der Senat das Beru­fungs­ur­teil auf die Revi­si­on der Beklag­ten auf­ge­ho­ben, soweit dar­in zu deren Nach­teil erkannt wor­den ist, und es an das Beru­fungs­ge­richt zurück­ver­wie­sen, damit die erfor­der­li­chen Fest­stel­lun­gen nun­mehr nach­ge­holt wer­den können. 

Die Revi­si­on des Klä­gers, mit wel­cher die­ser die Bemes­sung des bei einer Rück­ab­wick­lung des Kauf­ver­tra­ges in Abzug zu brin­gen­den Nut­zungs­er­sat­zes als über­höht angreift, hat der Senat hin­ge­gen zurück­ge­wie­sen. Die Instanz­ge­rich­te haben ihrer Schät­zung (§ 287 Abs. 1 ZPO ana­log) inso­weit im Ein­klang mit der höchst­rich­ter­li­chen Recht­spre­chung die zeit­an­tei­li­ge linea­re Wert­min­de­rung zugrun­de gelegt, die bei Neu­fahr­zeu­gen aus­ge­hend vom Brut­to­kauf­preis anhand eines Ver­gleichs zwi­schen tat­säch­li­chem Gebrauch (gefah­re­ne Kilo­me­ter) und vor­aus­sicht­li­cher Gesamt­nut­zungs­dau­er (erwar­te­te Gesamt­lauf­leis­tung) zu bestim­men ist. Für die zu erwar­ten­de Gesamt­lauf­leis­tung ist dabei die Lebens­dau­er des gesam­ten Fahr­zeugs maß­ge­bend, die unter Berück­sich­ti­gung von der Moto­ri­sie­rung, der Qua­li­tät und der Preis­klas­se des Fahr­zeugs zu beur­tei­len ist. Dabei ist nicht zu bean­stan­den, dass sich die Vor­in­stan­zen an den in der Gerichts­pra­xis anzu­tref­fen­den Schätz­wer­ten bei Mit­tel­klas­se­wa­gen neue­ren Datums ori­en­tiert und für das Fahr­zeug eine zu erwar­ten­de Gesamt­lauf­leis­tung von 250.000 Kilo­me­tern ange­setzt haben. Die dem­ge­gen­über unter Sach­ver­stän­di­gen­be­weis gestell­te Behaup­tung des Klä­gers, das erwor­be­ne Fahr­zeug habe eine vor­aus­sicht­li­che Lauf­leis­tung von 400.000 Kilo­me­tern, ist unbe­acht­lich. Denn der Klä­ger hat vor­lie­gend nicht auf­ge­zeigt, dass ein Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten eine trag­fä­hi­ge­re Schätz­grund­la­ge als die seit vie­len Jah­ren ver­öf­fent­lich­ten Schätz­wer­te der Tat­ge­rich­te böte. 

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/recht…