Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 22.04.2024, AZ 7 U 93/23

1. Das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO bezieht sich auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen primärer Rechtsgutverletzung und den – hieraus resultierenden – weiteren Gesundheitsschäden des Verletzten (Sekundärschäden). Zur Überzeugungsbildung des Gerichts genügt insoweit die hinreichende bzw. überwiegende Wahrscheinlichkeit.
2. Bei einer psychischen Vorbelastung des Geschädigten gilt zunächst der Grundsatz, dass der Schädiger auch für eine psychische Fehlverarbeitung einzustehen hat, wenn eine hinreichende Gewissheit besteht, dass die psychisch bedingten Ausfälle ohne den Unfall nicht eingetreten wären. Eine unfallbedingte Mitverursachung reicht insoweit aus.
3. Bei einer psychischen Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens kann die unfallbedingte Kausalität in drei Fallgruppen nicht gegeben sein: Bagatellunfall, Begehrensneurose des Geschädigten und überholende Kausalität.
4. Bei der „überholenden Kausalität“ ist der Schaden dem Schädiger nicht (mehr) zuzurechnen, wenn infolge einer Vorerkrankung oder psychischen Disposition auch ohne das Unfallereignis der Schaden zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz oder teilweise eingetreten wäre. Die Beweislast für das Vorliegen einer Reserveursache obliegt dem Schädiger, allerdings kommt auch ihm insoweit die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zugute.
5. Befundberichte von behandelnden Ärzten haben für die Frage der Unfallbedingtheit nur indizielle Bedeutung. Für die behandelnden Ärzte steht die Therapie im Vordergrund, um dem Patienten Linderung zu verschaffen. Im Haftpflichtprozess kommt es hingegen auf die Unfallkausalität an, die durch medizinische Gerichtssachverständige ex post zu klären ist. Die Befundberichte der behandelnden Ärzte enthalten häufig nur subjektive Schilderungen ihrer Patienten zu Vorerkrankungen oder früheren Befunden, die objektiv nicht verifiziert oder abgeklärt worden sind.
6. Bei der Schmerzensgeldbemessung wirkt sich eine spezielle Schadensanfälligkeit oder eine unangemessene Erlebnisverarbeitung des Geschädigten in der Regel anspruchskürzend aus. Diese beschränkende Wirkung gilt auch im Fall einer psychischen Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens durch den Geschädigten.

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