Schles­wig-Hol­stei­ni­sches Ober­lan­des­ge­richt, Beschluss vom 02.05.2023, AZ 12 U 119/22

Aus­ga­be: 04–2023

1. Der Vor­trag eines Fahr­zeug­käu­fers im sog. Die­sel­ab­gas­skan­dal, dass es eine teil­wei­se erheb­li­che Dif­fe­renz zwi­schen den NOx-Wer­ten gebe, die auf dem Prüf­stand gemes­sen wür­den, und denen, die sich im Real­be­trieb erge­ben wür­den, genügt allein nicht, um von dem Ver­bau einer unzu­läs­si­gen Abschalt­ein­rich­tung auszugehen.

2. Auch die kon­kre­te Benen­nung eines unstrei­tig ver­bau­ten Ther­mofens­ters als unzu­läs­si­ger Abschalt­ein­rich­tung führt nicht auto­ma­tisch zu einem Scha­dens­er­satz­an­spruch des Käu­fers. Hier­bei kann mit der Recht­spre­chung des Bun­des­ge­richts­hofs offen blei­ben, ob es sich dabei um eine unzu­läs­si­ge Abschalt­ein­rich­tung han­delt; jeden­falls fehlt es in der Regel an einer vor­sätz­li­chen sit­ten­wid­ri­gen Schädigung.

3. Ob der Her­stel­ler ver­pflich­tet war, im Typ­ge­neh­mi­gungs­ver­fah­ren genaue­re Anga­ben zur tem­pe­ra­tur­ab­hän­gi­gen Arbeits­wei­se des Abgas­rück­füh­rungs­sys­tems zu machen, so dass bei Nicht­of­fen­le­gung eine Täu­schung des KBA ange­nom­men wer­den könn­te, hängt vom Zeit­punkt der Bean­tra­gung der Geneh­mi­gung ab. Eine detail­lier­te Anga­be zur Funk­ti­ons­wei­se der Abgas­rück­füh­rung wur­de erst ab Inkraft­tre­ten der Ver­ord­nung (EU) Nr. 646/2016 ab dem 10. Mai 2016 erforderlich.

4. Der Fest­stel­lung, das Ver­hal­ten der für den Her­stel­ler han­deln­den Per­so­nen sei objek­tiv sit­ten­wid­rig gewe­sen, kann im Ein­zel­fall über­dies ent­ge­gen­ste­hen, dass jeden­falls zum Zeit­punkt des Inver­kehr­brin­gens eines Fahr­zeugs im Jahr 2016 die recht­li­che Wer­tung zur (Un-)Zulässigkeit von Ther­mofens­tern unklar war und von der Unter­su­chungs­kom­mis­si­on „Volks­wa­gen“, Lite­ra­tur und Recht­spre­chung strei­tig dis­ku­tiert wur­de (vgl. Führ, NVwZ 2017, 265). Dies zeigt, dass kei­ne kla­re und ein­deu­ti­ge Rechts­la­ge gege­ben ist, gegen wel­che die Beklag­te bewusst ver­sto­ßen hät­te. Schließ­lich muss­te sich auch der Gerichts­hof der Euro­päi­schen Uni­on auf Vor­la­ge eines fran­zö­si­schen Gerichts mit der Fra­ge der Aus­le­gung der genann­ten Vor­schrift befas­sen (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Dezem­ber 2020 — C‑693/18, NJW 2021, 1216).

5. Allein aus einer mög­li­cher­wei­se zu unter­stel­len­den objek­ti­ven Unzu­läs­sig­keit der Abschalt­ein­rich­tung in Form des Ther­mofens­ters folgt auch kein Vor­satz hin­sicht­lich der Schä­di­gung der Käu­fer. Im Hin­blick auf die unsi­che­re Rechts­la­ge ist nicht dar­ge­tan, dass die für die Beklag­te täti­gen Per­so­nen die Gefahr einer Schä­di­gung für mög­lich gehal­ten und die­se bil­li­gend in Kauf genom­men hät­ten (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Sep­tem­ber 2021 — VII ZR 126/21, Rn. 24; BGH, Urteil vom 16. Sep­tem­ber 2021 — VII ZR 322/20, Rn. 31 und BGH, Beschluss vom 15. Sep­tem­ber 2021 — VII ZR 2/21, Rdnr. 23).

6. Auch aus wei­te­ren behaup­te­ten Abschalt­vor­rich­tun­gen z.B. in Form einer Prüf­stan­d­er­ken­nung durch Tem­pe­ra­tur, Höhe über dem Mee­res­spie­gel, Lenk­win­kel und Zeit des Betriebs des Fahr­zeugs ergibt sich nichts ande­res zur Fra­ge der Sit­ten­wid­rig­keit bzw. des Vor­sat­zes, solan­ge es dabei um Para­me­ter geht, die den Prüf­stand als auch den Stra­ßen­be­trieb glei­cher­ma­ßen betref­fen, so dass aus deren Vor­han­den­sein kei­ne ent­spre­chen­den Schlüs­se gezo­gen wer­den können.

7. Uner­heb­lich ist auch die Behaup­tung eines Käu­fers, eine Scha­dens­er­satz recht­fer­ti­gen­de wei­te­re Abgas­ma­ni­pu­la­ti­on erfol­ge über das OBD, das trotz deut­lich erhöh­ter NOx-Wer­te im rea­len Fahr­be­trieb sei­nes Fahr­zeugs kei­nen Feh­ler mel­de. Hier­in liegt weder eine unzu­läs­si­ge Abschalt­ein­rich­tung im Sin­ne von Art. 5 Abs. 2 Ver­ord­nung (EG) 715/2007 noch eine für ein sit­ten­wid­ri­ges Ver­hal­ten der Beklag­ten spre­chen­de Funk­ti­on (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Sep­tem­ber 2021 — VII ZR 2/21, Rdnr. 18).

8. Auch unter Berück­sich­ti­gung der mit der Beru­fungs­be­grün­dung vor­ge­leg­ten wei­te­ren Unter­la­gen, den sog. Bosch-Papers, bleibt der Befund unver­än­dert, wonach es an greif­ba­ren Anhalts­punk­ten dafür fehlt, dass über das Aus­lo­ten eines Spiel­raums hin­aus durch den Her­stel­ler in einem Fahr­zeug tat­säch­lich eine oder meh­re­re unzu­läs­si­ge Abschalt­ein­rich­tun­gen ein­ge­setzt wären, geschwei­ge denn, dass dies in sit­ten­wid­ri­ger und/oder vor­sätz­li­cher Absicht gesche­hen wäre.

9. Es fehlt schließ­lich auch an einem kau­sa­len ent­stan­de­nen Scha­den, wenn ein Rück­ruf bis­lang trotz Über­prü­fung nicht erfolgt ist und auch zukünf­tig nicht droht. Der Bun­des­ge­richts­hof sieht den Scha­den in der Mög­lich­keit einer Nut­zungs­ein­schrän­kung auf­grund behörd­li­cher Maß­nah­men. Bis heu­te wur­de das streit­ge­gen­ständ­li­che Fahr­zeug trotz der Kennt­nis des KBA von dem EuGH-Urteil vom 14. Juli 2022 (u.a. in der Rechts­sa­che C‑145/20), in dem der EuGH zur Zuläs­sig­keit des Ther­mofens­ters Stel­lung genom­men hat, nicht zurück­ge­ru­fen. Viel­mehr hat das KBA in einer Stel­lung­nah­me dazu aus­ge­führt, dass sei­ne Geneh­mi­gungs­pra­xis die Maß­stä­be des EuGH bereits gewähr­leis­te (https://www.kba.de/DE/Themen/Marktueberwachung/Abgasthematik/stellungnahme_euGH_thermofenster_inhalt.html).

10. Dar­über hin­aus fehlt es im kon­kre­ten Fall an einem kau­sa­len Scha­den auch des­halb, weil der Käu­fer das Fahr­zeug erst am 26. Okto­ber 2016 erwarb, als der sog. Die­sel­ab­gas­skan­dal bereits, wenn auch nicht in vol­lem Umfang, bekannt war. Vor die­sem Hin­ter­grund konn­te er nicht dar­auf ver­trau­en, dass das von ihm erwor­be­ne Fahr­zeug hier­von nicht betrof­fen sein würde.

11. Man­gels Scha­dens (s. Punk­te 9 und 10) und auf­grund feh­len­den Fahr­läs­sig­keits­vor­wurfs ergibt sich ein Anspruch eines Fahr­zeug­käu­fers nach der Ent­schei­dung des EuGH vom 21. März 2023 (Rechts­sa­che C‑100/21) jeden­falls im vor­lie­gen­den Fall auch nicht aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 Ver­ord­nung 715/2007/EG. Der Her­stel­ler hat nicht gegen den zivil­recht­li­chen Fahr­läs­sig­keits­maß­stab des § 276 Abs. 2 BGB ver­sto­ßen. Das Ther­mofens­ter war bei Inver­kehr­brin­gen des streit­ge­gen­ständ­li­chen Fahr­zeugs sog. Indus­trie­stan­dard und wur­de weit­rei­chend von einer Viel­zahl von Auto­her­stel­lern in Die­sel­fahr­zeu­gen ein­ge­setzt, ohne dass dies vom KBA damals oder spä­ter – trotz mehr­fa­cher Unter­su­chun­gen — bean­stan­det wor­den wäre.

12. Für einen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB fehlt es bereits an der Stoff­gleich­heit der etwai­gen Ver­mö­gens­ein­bu­ße des Käu­fers durch den Abschluss des Kauf­ver­trags mit den denk­ba­ren Ver­mö­gens­vor­tei­len, die ein ver­fas­sungs­mä­ßi­ger Ver­tre­ter der Beklag­ten (§ 31 BGB) für sich oder einen Drit­ten erstrebt haben könn­te (BGH, Urteil vom. 30. Juli 2020 — VI ZR 5/20, Rn. 24 ff.).

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